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Kap. XVI.
§ 50.

So bleibt nur noch die Gerechtigkeit, um alle Tugenden behandelt zu haben. Auch von ihr kann indess das Gleiche gesagt werden. So wie ich gezeigt habe, dass die Weisheit, Mässigkeit und Tapferkeit mit der Lust in der Art verbunden sind, dass sie in keiner Weise von ihr getrennt und abgesondert werden können, so gilt dies auch von der Gerechtigkeit, die nicht allein niemals Jemandem schadet, sondern immer durch ihre Kraft und Natur beiträgt, das Gemüth zu beruhigen und die Hoffnung zu erhalten, dass Nichts von dem fehlen werde, dessen ein unverdorbener Mensch bedarf. So wie die Verwegenheit, die Ausgelassenheit und Trägheit die Seele immer peinigen, immer aufregen und stören, so beunruhigt auch die Unredlichkeit, wenn sie in dem Gemüth sich festgesetzt hat, durch ihre blosse Gegenwart; wenn sie etwas unternimmt, kann sie trotz aller Heimlichkeit doch nicht sicher sein, dass es immer verborgen bleiben werde; denn in der Regel folgt den Handlungen des Unredlichen zunächst der Verdacht, dann erhebt sich das Gerede und Gerücht, dann der Ankläger und zuletzt der Richter, ja, Viele zeigen sich selbst an, wie während Deines Consulats geschah.

§ 51.
Selbst wenn Einzelne sich genügend gegen alles Bekanntwerden geschützt und verwahrt zu haben dünken, bleibt ihnen doch die Furcht vor den Göttern, und sie halten jene Angst, die ihr Gemüth »Tag und Nacht« verzehrt, für eine von den unsterblichen Göttern verhängte Strafe. Wie kann wohl aus unrechten Handlungen eine so grosse Minderung der Unannehmlichkeiten des Lebens hervorgehen, dass sie die aus dem Bewusstsein der Unthaten, aus der Strafe der Gesetze und dem Hass der Bürger hervorgehende Steigerung derselben die Wage hielte? Und doch giebt es Menschen, die weder in dem Streben nach Geld, noch nach Ehren, nach Herrschaft, nach sinnlicher Lust, nach leckem Mahlzeiten und neuen Annehmlichkeiten Maass halten. Keine Beute, die sie aus ihren Unthaten gewonnen haben, mindert ihre Begierden; sie werden dadurch nur heftiger, und nur Zwang, aber nicht Ermahnung kann sie im Zaume halten.

§ 52.
So empfiehlt die wahre Vernunft dem Verständigen die Gerechtigkeit, die Billigkeit, die Treue. Schon dem ungeschickten, dem schwachen Menschen nützt sein Unrechtthun nichts, da er seine Pläne nicht leicht auszuführen und, wenn es geschieht, das Erreichte nicht festzuhalten vermag. Aber auch die Macht an Geist und Vermögen passt besser zu einem edlen Sinne, denn durch einen solchen erlangt man das Wohlwollen der Menschen und, was für die Ruhe des Lebens noch wichtiger ist, ihre Liebe, weil aller Anlass zum Unrechtthun dann fehlt.

§ 53.
Denn die natürlichen Begierden können leicht und ohne Verletzung Anderer befriedigt werden, und den eitlen Begierden darf man nicht nachgeben, da sie kein Wünschenswerthes begehren und in dem Unrecht selbst mehr Schaden enthalten ist, als Vortheil in den Dingen, die durch das Unrecht erlangt werden. Deshalb kann man auch von der Gerechtigkeit nicht sagen, dass sie um ihrer selbst willen begehrenswerth sei; sie ist es nur, weil sie zur Annehmlichkeit des Lebens am meisten beiträgt. Geliebt zu werden und Andern theuer zu sein, ist angenehm, weil das Leben dadurch sicherer und die Lust vollständiger wird. Wir meinen daher, dass die Unredlichkeit nicht blos deshalb zu fliehen sei, weil sie dem Unredlichen Nachtheil bringt, sondern weit mehr noch, weil sie das von ihr eingenommene Gemüth niemals zu Athem und Ruhe kommen lässt.

§ 54.
Wenn sonach selbst das Lob der Tugenden, in dem sich die Ausführungen der übrigen Philosophen hauptsächlich so stolz ergehen, zu keinem Ergebnisse führen kann, so lange es nicht auf die Lust gerichtet wird, und wenn die Lust allein es ist, die uns durch ihre Natur anruft und anlockt, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass sie das höchste und äusserste Gut ist, und dass das glückliche Leben nur in einem von Lust erfüllten Leben besteht.